Stolberg — „Wann geht’s denn endlich los?“, ruft ein Junge ungeduldig. Holgers Sievers Antwort: „Wir sind schon mittendrin!“ Der Radfahrtrainer erklärt nämlich gerade der 3b der Offenen Ganztagsgrundschule am Donnerberg in Stolberg, was alles zum verkehrssicheren und sicheren Rad – das ist ein Unterschied, dazu später mehr – gehört und wie man den Helm richtig auf den Kopf setzt. Aber klar, die Kinder wollen mehr als zuhören. Sie wollen Rad fahren. Durch den interessanten Parcours mit Wippe, langgezogener Kurve und Schlaglochbrett, den Sievers auf ihrem Schulhof aufgebaut hat. Und das will Sievers eigentlich auch.
„Rad macht Schule“
Der Gründer der Cycling Academy besucht seit dem Schuljahr 2021/22 jeweils die dritten Klassen aller Stolberger Grundschulen, um mit ihnen ein Radfahrsicherheitstraining zu machen. Also schon fast zwei Jahre vor der gemeinhin als Fahrradführerschein benannten Radprüfung am Ende der vierten Klasse. Sein Projekt „Rad macht Schule“ läuft an den Stolberger Grundschulen in Kooperation mit der Stadt Stolberg und mit der VR Bank Region Aachen, die die Kosten als Sponsor trägt. 4000 Kinder haben in den vergangenen Jahren mitgemacht. „Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass jedes Kind Radfahren kann. Mindestens ein Viertel aller Kinder ist unsicher auf dem Rad. Ich möchte, dass sie sich sicherer fühlen und damit den Spaß am Radfahren entdecken. Mit dem Rad erweitert sich ihr Horizont. Sie werden selbstständiger“, erläutert Sievers seine Motivation.
Aber ohne Sicherheit geht es nicht – die 3b muss sich also noch etwas gedulden und erst einmal ihr Fahrrad unter die Lupe nehmen. Ist alles dran? Ist alles fest? Um verkehrssicher zu sein, braucht ein Fahrrad funktionierende Bremsen, Licht vorn und hinten, Reflektoren in den Speichen, eine Klingel und rutschfeste Pedalen. Aber vielleicht ist es dann immer noch nicht sicher. „Ruckelt mal am Sattel, ob der fest ist. Und auch von vorn am Lenker. Der darf auch nicht wackeln. Dafür müsst ihr den Vorderreifen zwischen die Beine klemmen. Guckt auch, ob die Reifen mit Schrauben fest am Fahrrad verbunden sind“, leitet Sievers die Kinder beim zweiten Sicherheitscheck an.
Für Sievers gehört auch ein Helm unabdingbar auf den Kopf beim Radfahren. „Und der muss richtig sitzen. Also nicht wie ein Cowboyhut hinten wackelig am Kopf. Sondern in die Stirn gezogen und festgezogen. Zwei Finger sollten auf der Stirn unter der Helmkante noch Platz haben, nicht mehr. Zwischen Gurt und Hals darf nicht mehr als ein Finger durchpassen. Und an den Ohren soll der Gurt auch fest anliegen“, erklärt der ehemalige Radprofi und jetzige Radsport-Landestrainer NRW.
Nach einem Rundgang durch den Parcours – jeder und jede soll ja wissen, wo er langfahren soll – geht es auf die Räder. Endlich – für viele Kinder. Sie fahren über ein sehr schmales Brett, über ein Brett mit kleinen Stufen, über eins mit einer Richtungsänderung, über losen Untergrund, im Slalom um ein paar Pylonen, durch eine langgezogene Kurve aus Holzklötzchen, über die Wippe, über ein Brett mit Löchern, bei dem sie die unversehrte Mitte treffen sollen. Alles Simulationen für Begebenheiten, die den Kindern im echten Straßenverkehr begegnen können. Sievers steht in der Mitte und korrigiert: „Haltet Abstand! Zusammen über die Wippe funktioniert nicht.“
Herausforderungen meistern
Das Mädchen mit dem rosafarbenen Helm legt ordentlich Tempo vor. Sie hat wenig Probleme, die Herausforderungen zu meistern. Auch als sie fast bis aufs Stehen bremsen muss, weil ihre Vorgängerin gestoppt hat, tritt sie danach mühelos wieder an. Sie sitzt offensichtlich öfter auf dem Rad.
Ihre Klassenkameradin mit dem weißen Fahrrad lässt dagegen öfter mal die Füße gen Boden baumeln, damit sie sich im Notfall schnell abstützen kann. Sie ist im ersten Rundgang deutlich unsicherer unterwegs. „Ich habe Angst – ist ja meine erste Runde“, ruft sie, als ihre Freunde sie zu mehr Tempo an der Wippe animieren wollen. Lachen tut sie trotzdem.
Was auch auffällt: Nicht alle Kinder sind heute mit dem eigenen Fahrrad gekommen. Einige haben zumindest einen Helm mitgebracht, so dass sie mit den schuleigenen Rollern durch den Parcours flitzen können. Zwei können aber nur zuschauen. „Dass Kinder mit Beginn der Grundschule Fahrrad fahren können, wird zunehmend weniger“, bestätigt Schulleiterin Hille Breuer Sievers Beobachtung. „Viele Kinder sind lange in der Schule. Und zuhause spielen sie seltener draußen. Deshalb haben wir auch die Roller angeschafft, damit die Kinder in der Schule ihr Gleichgewicht trainieren können.“
Breuer sieht aber dennoch den Erfolg der Mobilitätswochen an ihrer Schule, bei der „Rad macht Schule“ ein Bestandteil ist. „Danach sind die Kinder wieder motivierter, mit dem Rad zur Schule zu kommen. Alle Kinder versuchen wir das ganze Jahr über ein Belohnungssystem zu motivieren: Wenn sie zu Fuß oder mit Fahrrad oder Roller kommen – vorschriftsmäßig mit Warnweste und gegebenenfalls Helm – bekommen sie einen Zauberstern. Wenn sie eine bestimmte Anzahl gesammelt haben, dürfen sie sich etwas wünschen: ein Spiel oder ähnliches“, erklärt sie.
Manche Eltern machen diesen Bemühungen um Verkehrssicherheit vor der Schule und Selbstständigkeit ihrer Kinder allerdings einen Strich durch die Rechnung. Sie fahren nicht eine der drei Elternhaltestellen an, sondern lassen die Kinder irgendwo vor der Schule aus dem Auto aussteigen. Das nicht nur an der Schule auf dem Donnerberg, sondern weit verbreitete Phänomen der Elterntaxis vor Schulen kennt auch Georg Trocha, Mobilitätsbeauftragter der Stadt Stolberg: „Es gibt immer mehr Eltern, die ihre Kinder entweder unterschätzen, sie also nie allein gehen oder fahren lassen. Oder die ihre Kinder überschätzen und sie, ohne vorher den Weg gemeinsam abzugehen und zu üben, direkt allein zur Schule schicken.“ Beides sei nicht sinnvoll.
Sichere Schulwege
Abhilfe sollen neben Aktionen wie „Rad macht Schule“ auch Pläne für sichere Schulwege für jede Schule schaffen, die nach und nach entstehen. „Letztlich ist Bewegung auch gut für die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten der Kinder“, so Trocha. Manche Schule bekommt auch ein eigenes schulisches Mobilitätsmanagementkonzept. Darin sind zum Beispiel zusätzlich die Einrichtung von Elternhaltestellen vorgesehen. Die Grundschule Gressenich und die Hermannschule haben bereits eins. An den Konzepten für die Grundschulen Prämienstraße und Mausbach wird gearbeitet.
Auf dem Schulhof gehen die Kinder in die nächsten Runden. Alle – egal ob ängstlich oder nicht – sind hochmotiviert, die nächste Runde (noch) besser zu meistern. Alle sind konzentriert, keins mosert. An den Kindern scheint es eher nicht zu liegen, sollte das Fahrrad demnächst wieder ungenutzt im Keller stehen.
Quelle AZ - Rauke Bornefeld
Holger Sievers und die Kinder der 3b der Grundschule Donnerberg
Holger Sievers und die Kinder der 3b der Grundschule Donnerberg bei der Sicherheitseinweisung